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Er sitzt mir gegenüber.

Die strähnigen, blonden Haare fallen ihm bis auf die Schulter, eine Hand darin vergraben. Er stützt sich ab, als könnte er alleine seinen Kopf nicht mehr halten. Vielleicht stimmt das ja auch. Nur er alleine weiß wie viele Gedanken, welche Gedanken und wie schwere Gedanken in seinem Kopf herumschwirren, sich festsetzen und von niemandem mehr vertrieben werden können.

Ich halte meinen Mund geschlossen und sehe ihn nur stumm an. Präge mir sein Bild ein. Denn wie jedes Mal, wenn ich ihn sehe und jedes mal mehr, fürchte ich, es könnte das letzte Mal sein ihn zu sehen.

Seine Haut ist blass, wie immer und sein Blick fast schon stumpf, er geht ins Leere, durch mich hindurch. Ein Schleier hat sich auf die einst so strahlend blauen Augen gelegt.

Etwas sticht mir ins Herz.

Es war nicht fair.

Nein, es war verdammt noch mal nicht fair, dass Gott gerade ihm so viel Talent gegeben hatte, so eine Stimme, die verzaubert und einen bannt, nicht mehr loslässt. Dass er ihm diese Anziehungskraft gegeben hat, dieses Lächeln und diese Augen, die mich faszinieren, in denen ich versinken könnte. Es war nicht fair, dass er ausgerechnet Courtney seine Liebe, seine Tochter geschenkt hatte. Und am allerwenigsten war es fair, dass Gott ausgerechnet ihm so eine Vergangenheit gegeben hatte, ohne Zuneigung, ohne Halt und ohne einen feste, richtige Familie, die er gebraucht hätte.

Nein, es war nicht fair, dass ausgerechnet er diese unendlich schweren Gedanken mit sich trug. Nein. Das war es nicht.

Die langen Wimpern werfen Schatten auf die helle Haut und langsam sieht er auf.

Fast bekommen seine Augen diese Kraft, dieses Strahlen zurück und fast meine ich, seine Mundwinkel heben sich zu einem kleinen, kleinen Lächeln. Aber vermutlich bildete ich es mir nur ein. Reines Wunschdenken.

Aber wenigstens sieht er mich. Er sieht mich an. Und ich weiß, er ist nicht im Drogenrausch, nicht im Delirium, er ist wach und erkennt mich – wenigstens etwas.

„Hey …“, bringe ich heraus, mit einer Stimme, kaum mehr als Rauchschwaden, die vom Wind weit weg fortgetragen werden. Genauso leise und undeutlich murmelt er: „Hey …“ Meine Lippen verziehen sich zu einem schmalen Lächeln.

„Wie geht's?“

Er macht sich nicht einmal die Mühe zu antworten, schnaubt nur leise und richtet sich auf. Er zieht eine Zigarettenschachtel aus seiner Jacke, nimmt sich eine, zündet sie an und nimmt einen tiefen Zug. Er bläst den Rauch nach oben, hält mir die Packung hin. Ich nehme mir die letzte Zigarette, stecke sie mir an.

Immer noch besser mit ihm zu rauchen als versuchen ein Gespräch in Gang zu bringen.

Eine Weile sitzen wir einfach nur da. Wir beide. Auf meinem dreckigen Balkon mit den vertrockneten Pflanzen. Unter uns die Lichter der Stadt. Sie flackern und sind unbeständig. Genau wie Kurt. Aber so wichtig die Lichter für die Stadt sind, so wichtig ist er für mich. Ohne die Lichter bricht Chaos aus, Angst im Dunkeln.

Ohne ihn hätte ich sogar Angst bei strahlendem Sonnenschein.

Wenn er erlischt, bin ich verloren.

Als die letzte Asche verflogen ist und wir nur noch Stummel zwischen den Fingern haben, drücken wir sie in der trockenen Blumenerde aus. Leicht lehne ich mich gegen seine Schulter.

„Wie geht's Frances?“

Ich mustere ihn aus dem Augenwinkel. Nicht einmal die Frage nach seiner Tochter, scheint das Leben in ihm zu erwecken zu können. Starr und leer ist sein Blick, ausdruckslos und kalt. Er hebt nur vage die Schultern.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, verberge wie weh es tut.

Schon immer habe ich verborgen, wie weh es tut.

Vermutlich sitzen wir Stunden da, aber irgendwann erhebt er sich, schwankt schon fast. Mittlerweile ist er fast schon zu dünn, aber trotzdem hält er mir die Hand hin, zieht mich auf die Füße. Kurz huscht ein Lächeln über meine Lippen. Erinnerungen an alte Zeiten, an gute Zeiten. An Zeiten, wo es nur uns zwei gab.

Doch sofort ist aller Frohsinn wie weggewischt.

„Du gehst schon?“

Ein kaum merkliches Nicken. Er dreht den Kopf und sieht mich an, sieht mir so tief in die Augen.

Seine Augen glänzen, strahlen, sind lebendig. Als wäre das Feuer in ihm nicht längst zur Glut erloschen und die Glut nicht längst ausgebrannt.

Einer seiner berühmten Sätze geht mir durch den Kopf.

“If my eyes could show my soul, everyone would cry when they saw me smile.”

Ich schlucke. Fast schon unsicher sehe ich in diese glimmenden, blauen Augen.

„Nirvana ruft.“

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. Nirvana … die Band … sie ist doch schon längst aufgelöst.

„Was?“

Doch er schüttelt nur stumm den Kopf, zieht mich an sich und hält mich fest. Ich sinke gegen ihn, atme tief ein. Und mir steigen Tränen in die Augen. Oh, wenn ich doch nur wüsste, wieso!

Viel, viel zu bald löst er sich wieder von mir, seine Hände halten meine Schultern.

„Wir sehen uns irgendwann.“, sagt er. Fast, als würde er mit sich selbst reden, denn er sieht mich nicht an und seine Stimme ist hohl. „Da bin ich mir sicher.“

Mit belegter Stimme sage ich: „Natürlich tun wir das.“

Ich glaube, er nimmt meine Worte nicht einmal wahr.

Seine Hände rutschen von meinen Schultern, hängen ein, zwei Sekunden einfach nur hinab, dann drückt er die Balkontür auf. Mit hängenden Schultern geht er durch meine kleine, rauchige Wohnung, öffnet die Tür und geht ohne sich noch einmal umzudrehen.

Ich drehe mich um, lehne mich gegen das Geländer, stelle mich auf die Zehenspitzen um einen besseren Blick auf die Straße zu haben.

In Gedanken zähle ich Stufe, für Stufe, Stockwerk, für Stockwerk, bis er unten ist. … 46, 47, 48. Die Glastür mit dem Sprung öffnet sich und ich erkenne seine schmale Statur, die hellen Haare, als er ins Freie tritt. Er bleibt stehen, direkt im Licht der Straßenlaterne. Als würde er mit sich ringen. Ohne es zu merken, beuge ich mich immer weiter nach vorne. Ich will nicht, dass er geht. Will nicht, dass er aus meinem Sichtfeld verschwindet.

Und da passiert es.

Ich rutsche auf dem feuchten Fliesenboden aus, mein Schwerpunkt ist viel zu weit vorne, ich bin viel zu müde, um zu begreifen.

Doch da kommt der Boden schon näher.

Rasend schnell näher.

Einen irrationalen Moment frage ich mich, ob ich auf Drogen bin.

Doch dann kommt der Aufprall.

Der gleißende Schmerz.

Überall.

Und ein Schrei.

Von wem ist er? Habe ich geschrien?

Ich kann mich nicht erinnern, meinem Mund geöffnet zu haben.

Ich kann mich an überhaupt gar nichts mehr erinnern.

Der Schmerz ist verschwunden.

Stattdessen ist da … gar nichts mehr.

Ich spüre nichts.

Nicht einmal die Hände, die mich umdrehen, die mich hochziehen.

Verschwommen sehe ich zwei runde, blaue, glänzend nasse Punkte über mir.

Verzerrte Worte dringen an mein Ohr.

„Nein … nein … irgendwann … irgendwann ins Nirvana … nicht jetzt … nein … nein … du doch nicht … nein … viel zu früh … nicht jetzt …“

Ich kann den Sinn nicht begreifen.

Warme Tropfen fallen auf meine Haut.

Ich spüre sie nicht.

Meine Augenlider flattern.

„Nein … bitte … bitte …“

Sie schließen sich und meine Seele hat meinen Körper schon längst verlassen.

Fliegt nach oben, in den Himmel, in die Hölle, ins Nirvana?

Was weiß ich?

„NEEEEIN!“

Fünf Tage später wird Kurt Cobain tot in seinem Haus in Seattle gefunden.

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RIP Kurt Cobain

Reviews sind gern gesehen :*


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