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Ein Sturm zog über Seattle hinweg. Regen trommelte unaufhörlich auf den Asphalt der leeren Straßen und Gehwege, gegen die Hauswände und Fenster, hinter denen sich Familien zum gemeinschaftlichen Fernsehabend zusammengefunden hatten und löste mehr und mehr Erde aus den Wiesen der Parks und verwandelte alles in eine farblose, schlammige Welt.

Der Wind sang ein bitterliches Klagelied, wie er so um sein Haus zog.

Er war allein heute Abend. Welcher Tag mochte es sein? Welche Woche? War es schon April? Wo blieb sein Frühling? Wo blieb die Freude, das Glück...

Im Halbdunklen saß er da und lauschte dem unaufhörlichen Konzert, das der Regen ihm bot, mit geschlossenen Augen. Unruhig und wild und gleichzeitig doch von einem Muster durchzogen, flogen die Tropfen auf das Dach über ihm. Neben ihm eine halbleere Flasche Whiskey und seine Nadeln. Er hatte schon zu viel gehabt und doch so wenig. Die Schmerzen waren nicht verschwunden wie sonst. Sie waren geblieben. Mr. Brownstone hatte ihm nicht helfen können. Oder wollen.

Wo war die Zeit geblieben?

Er begann, sich zu erinnern. Als er noch ein kleiner Junge war, gar nicht so weit von dem Ort, an dem er nun saß, gescheitert und allein, und gemeinsam mit seiner Familie noch glücklicher war. Glücklicher als er es jetzt war.

Es hatte nur einen kurzen Moment gedauert, eine Sekunde und seine Welt war zerbrochen. Das Leben hatte sich verändert. Und es war so geblieben, wie es war. Zerstört, ein irreparables Kunstwerk, für immer zerbrochen in tausend Teile. Von da an wurde nichts besser.

Als Mum und Dad getrennte Wege einschlugen. Und ihn auf der Strecke ließen.

Einen Moment lang blendete er alles aus. Seine Gedanken, seinen Kummer und Schmerz, den Regen.

Ohne jede Bewegung starrte er in die Dunkelheit, in ewige Finsternis und Einsamkeit. Seine Einsamkeit, sein persönlicher Abgrund, der sich nicht mehr nur vor dem Inneren Auge auftat.

Sein ganzes Leben rollte sich neu auf. Wieso war es so gelaufen? Er hatte wirklich glücklich sein wollen. Wieso konnte er nicht so sein, wie sie alle waren. So lebensfroh. Wie seine Freunde. Und seinen Ruhm genießen. Die Musik und das Leben. Wenigstens für einen kurzen Augenblick.

Es war ihm nicht vergönnt gewesen. Sein Herz war verbittert in der bodenlosen Tiefe. Und nicht einmal die Person, die ihn so geliebt hatte, hatte ihm diese Einsamkeit nehmen können.

Langsam zog er ein Foto aus seiner Hosentasche.

Es war alt und zerknittert, aber er wusste ganz genau, wer das auf diesem Foto war.

Seine Tochter. Sein eigenes Kind. Er hatte immer geglaubt, wenn er nur jemals einen Menschen träfe, der ihn liebt, wie er ist, dann könnte er auch glücklich sein. Sobald er vollends als er selbst akzeptiert wurde.

Aber er wurde nicht glücklich. Das kleine Mädchen hatte ihm nicht helfen können.

Langsam ließ er das Foto sinken, und ließ es dann einfach los. Es verschwand aus seinem Blickfeld und wurde von der Dunkelheit verschlungen.

Erneut verlor er sich in dem Orchester um sich herum und starrte einfach gerade aus. Seine Arme lagen lose auf den angewinkelten Knien, während er langsam ein – und ausatmete. Immer wieder. Erneut kamen ihm dieselben Fragen auf. Wieso er atmete. Wieso er hier saß, allein und trank, wo seine Freunde alle fort waren, feierten und … erneut Freude hatten.

Und er blieb zurück. Auf der Strecke.

„Du bist eben nicht so wie die“, wisperte ihm eine Stimme ins Ohr und er wusste genau, wer das war, der nun neben ihm gegen die Wand gelehnt saß und mit einem Mal einfach erschienen war.

„Boddah. Du warst lange nicht hier“, sagte er emotionslos und lächelte hoffnungslos, „es war sehr einsam ohne dich, Freund.“

Der Andere nickte nur. Auch er fühlte seinen Kummer. Ihre Herzen waren auf ewig verbunden, das hatten sie sich geschworen. Und Boddah war immer bei ihm gewesen, auch wenn er ihn nicht mehr gesehen hatte. Als er erwachsen wurde, wurde Boddah ersetzt, mit echten Freunden, Liebschaften und dem Kind. Aber das war in Ordnung, denn er wusste, sein Freund würde zurückkommen, wenn dieser eine Punkt erreicht war. Dieser Punkt, an dem sein Freund nun stand. Und er würde da sein, um ihm zu helfen.

„Ich fühle keine Angst mehr. Du bist hier.“

Langsam erhob sich Boddah, schritt durch die Dunkelheit … und brachte etwas hervor. Etwas, von dem er liebend gern gehabt hätte, das es nicht hier war und für immer verschwunden blieb.

Aber es war nun entdeckt und gefunden und nun brachte Boddah es wieder zurück in seine Hände. Wie ein guter Freund.

„Du weißt, was das Richtige ist“, flüsterte er und ließ die Schrotflinte auf den Schoss des Anderen fallen.

„Aber ich schaffe es nicht“, erwiderte dieser mit trauriger Stimme. Eine Träne rollte über seine Wange, als er erneut in seine Tasche griff und einen Kugelschreiber mit einem Stück gefaltetem Papier hervorzog. Langsam öffnete er es.

„Du hast es vorbereitet“, bemerkte Boddah und überflog die Zeilen kurz. Er wusste, was sein Freund zusagen hatte. Schließlich kannte er ihn besser als der Andere sich selbst jemals kannte und kennen dürfte.



„Es gibt nur noch eine Sache hinzuzufügen“, flüsterte sein Freund und setzte den Kugelschreiber an das Papier, „das letzte Bisschen Ich.“

Und er schrieb. Wie in Trance begann er, die letzten Worte seines Lebens niederzuschreiben.

And so remember: It's better to burn out than to fade away. Love. Peace. Empathy.



Eine weitere Sekunde des Schweigens verstrich. „Es soll nicht sein“, flüsterte er und unterschrieb das Eingeständnis. Das Eingeständnis vor der Welt, dass er zu schwach war, um zu leben. Zu feige, sich allem zu stellen und nicht stark genug, mit Leidenschaft zu leben. Wenigstens jene, die er nun zurückließ, seine geliebte Tochter, deren Freude noch strahlte, sollte glücklich sein. Und er selbst hatte keinen Platz in einer solchen Welt. Sein Platz war fernab und dorthin wollte er nun gehen. Dorthin, wo jene waren, die vor ihm scheiterten.

Langsam erhob er sich, ließ den Kugelschreiber fallen. Er lauschte dem Geräusch, das ertönte und im dumpfen Regen unangenehm hell erklang, als der Schreiber den Boden berührte und liegen blieb. In einer Hand den letzten Brief, in der Anderen die Schrotflinte.

Vor ihm Boddah, die einzige Konstante in seiner schnellen Welt, der ihn nun beruhigend ansah, mit einem Lächeln, das ihm Zuversicht gab.

Langsam drehte er den Lauf der Waffe in seine Richtung. Dieser Lauf war das Letzte, das seine Lippen küssen sollten.

Er war nur ein armer Junge mit einem großen Problem. Er war nicht besonders. Und er verdiente die Aufmerksamkeit nicht mehr, wenn er alle belügen musste.

Dies war sein letzter ehrlicher Auftritt. Und der Einzige, der diesen wahren Teil von ihm sehen durfte, sollte Boddah sein. Sein einziger Zeuge war sein Partner. In Love & Crime.

Das kalte Metall an seinem Rachen, an seiner Zunge. Langsam legten sich die Lippen um den Lauf. Kaum erreichte sein Finger den heiligen Abzug. Den Schlussstrich.

Er zögerte. Nicht aus Liebe zum Leben. Würde er es fertig bringen? Oder war das nur ein weiterer Schritt tiefer in den Abgrund, aus dem es dann kein Entrinnen geben würde? Ein ewiger Kreis aus Leid.

Boddah streckte eine Hand nach ihm.

„Hab keine Angst, Kurt. Es wird nicht mehr wehtun.“

Und in den Sturm, der um alle Häuser Seattles fegte, an Fenster und Hauswände trommelte, hinter denen Familien zusammengekommen waren, um beieinander zu sein; in diese harmonische April-Stimmung fiel ein Schuss, den niemand hörte und ein Körper fiel zu Boden, den niemand bemerkte.

Ein Leben erlosch und Leid endete für den Einen, wo es für Andere begann.


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